Seit mehr als 10 Jahren hat Kuan unzählige Stunden seiner selbst kreierten Kunstform gewidmet. Schon am Anfang, als er sich noch im Experimentierstadium befand, wurde ihm ein Erfolg zuteil, der von seinen Bewunderern als außergewöhnlich beschrieben wird. Mittlerweile besitzt Kuan eine beeindruckende Sammlung von mehr als 50 Objekten, die die Perfektion und Vielfalt seines Könnens unter Beweis stellen.
Ein gutes Beispiel seiner Kunstfertigkeit wird am Beispiel der Arbeit "Lebensfreude" sichtbar. Hierbei handelt es sich um eine in sich stehende unbeschädigte Eiermembran, deren harte Schale bis auf ein kleines als Ständer dienendes Stück völlig entfernt wurde. "Nicht selten benötige ich für ein Objekt wie dieses mehr als 40 Stunden", meint Kuan. "Oft merke ich, daß ich in der letzten Sekunde noch einen kaum sichtbaren Fehler gemacht habe und dann bleibt mir nichts anderes übrig, als das Objekt so schnell wie möglich zu zerstören, bevor ich es wieder bereue." Die Schnitztechniken sind sowohl anspruchsvoll als auch langwierig. "Ich habe mindestens 1 000 Eier zerdrückt, bevor ich es schaffte, mein erstes Ei erfolgreich zu schnitzen," erinnert sich Kuan. Der erste Schritt besteht weniger im exakten Schnitzen, als darin, die Vorlage des Designs auszuarbeiten. Die Schale des Eis wird im noch "lebendigen" Zustand geätzt, das heißt zu einem Zeitpunkt, an dem Dotter und Eiweiß sich noch in der Schale befinden. Nachdem Kuan die Umrißzeichnung des Designs beendet hat, sticht er ein winziges Loch in die Eierschale und bläst mit einem kleinen Röhrchen das Innere des Eis heraus. Anschließend setzt er seine Arbeit an jenen Stellen der Oberfläche fort, die völlig durchstoßen werden müssen. Für diese außerordentlich delikate Arbeit kann er sich nur der Spitze seines Messers bedienen.
Der eigentliche Arbeitsprozeß beginnt jedoch schon viel früher, nämlich bei der Auswahl der zum Schnitzen bestgeeigneten Eier. Kuan ist auf den lokalen Märkten schon dafür bekannt, daß er seine Einkäufe immer mit einer Taschenlampe tätigt. Normalerweise benötigt er bis zu einer Stunde, um jedes Ei sorgfältig zu prüfen und am Ende findet er vielleicht 4 Eier, die für sein Vorhaben geeignet sind. Kuans anspruchsvolle Auswahlkriterien stoßen nicht selten bei den Händlern auf Widerstand, und so hat er es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Suche nach den perfekten Eiern auf die verschiedensten Märkte auszudehnen.
Kuan erklärt uns, daß jedes seiner Kunstobjekte auch Ausdruck seiner Weltanschauung sei. Das Werk "Mutter und Söhne" besteht aus einer großen Eierschale, aus deren Inneren zwei kleine Schalen durch eine Öffnung hervortreten. Diese Arbeit schuf er in Erinnerung an seine zwei totgeborenen Brüder. Eine andere Eierschale, in die er 64 winzige Fenster Schachbrett-ähnlich in acht Reihen und acht Spalten geschnitzt hat, trägt den Namen "Vater", der im Chinesischen "Pa-Pa" ausgesprochen wird und gleichzeitig mit den Worten "8-8"homophon ist.
Für eine von Kuans komplexeren Arbeiten "Die fünf Gnaden" (langes Leben, Wohlstand, Gesundheit, Tugendhaftigkeit und natürlicher Tod), war es nötig, eine besonders schwierige Schnitztechnik anzuwenden. Dieses Objekt setzt sich aus 5 Schichten geschnitzter Eierschalen zusammen und ist an die berühmte, im Palastmuseum ausgestellte, 19-schichtig geschnitzte Elfenbeinkugel angelehnt. Der schwierigste Teil dieser Arbeit bestand darin, die kleineren Eierschalen, eine nach der anderen, in die große Schale durch einen 0,3 cm großen Spalt zu schieben.
Kuans Vorstellung vom Universum drückt sich in Arbeiten wie "Wiedergeburt", "Das Kleid der Zikade" und "Johannes 3:16" aus. "Wiedergeburt" besteht aus mehreren freischwebenden Ringen, die aus einer einzigen Eierschale geschnitzt wurden und nur durch die unzerstörte Membran zusammengehalten werden. "Das Kleid der Zikade" ist ein türähnliches ovales Stück Eierschale zusammen mit einem Rahmen. "Johannes 3:16" ist eine elegante Schriftschnitzerei zu dem Bibelthema: "Gott schenkte der Welt seinen Sohn".
Kuans gründliches Studium der chinesischen Malerei zeigt sich in Objekten wie "Päonie im Spiegel", "Drei singende Vögel auf einem Baum", "Päonienblüte im Frühling" und "Metamorphose eines Schmetterlings". Jedes Objekt verlangte erst eine sorgfältige Oberflächenschnitzerei, um dann zu einem wunderschönen, delikaten Bild zu wachsen.
Eine sehr raffinierte als auch patriotische Arbeit ist Kuans "Nationalfahne der Republik China". Auf den ersten Blick kann der Betrachter keinen Unterschied zu einem normalen Ei feststellen. Aber wenn man das Ei beleuchtet, dann wird die im Inneren der Eierschale aufgemalte Nationalfahne sichtbar. Kuan schuf dieses Bild, indem er einen außergewöhnlich dünnen Pinsel durch ein kleines Loch in der Schale steckte und dann mit peinlicher Genauigkeit die Flagge auf die Innenseite der Schale malte.
Die wohl komplizierteste Schnitzerei seiner Sammlung ist "Sonne und Mond scheinen gemeinsam". Um dieses Objekt zu schaffen, schnitzte Kuan erst die Sonne, das nationale Wahrzeichen der Republik China, auf die Kuppe einer Eierschale, dann durchstach er die übrige Schale mit 10 000 kleinen Löchern. Das Ergebnis hat eindeutig einen großen ästhetischen Reiz. Mit diesem Werk bricht er auch den früheren Guinnessweltrekord eines Ungarn, der es schaffte, 1 200 Löcher in ein Ei zu stechen. Diese Arbeit ist auch eine abstrakte Illustration seiner Sehnsucht nach der Wiedervereinigung Chinas.
Die Wiedervereinigung ist ein wichtiges Thema in Kuans Familie. "Dieser Wunsch ist mein väterliches Erbe," sagt Kuan. Sein Vater Kuan Ying-chi immigrierte 1949 von Shenyang, Festland China, nach Taiwan. Den Rest seines Lebens arbeitete er für die Eisenbahnverwaltung auf Taiwan. Kuan erzählte weiter: "Mein Vater war so beseelt von dem Wunsch nach Hause zurückzukehren, daß er seine Energien in etwas greifbares umsetzen mußte." Aus diesem Grunde verbrachte sein Vater den Großteil seiner Freizeit damit, erfinderisch tätig zu sein. Zwei seiner Erfindungen wurden sogar patentiert: Eine spezielle T-förmige Hacke und ein Nagel zur Montage von Gleisen. "Für meinen Vater war die Reise von der Chung-Chang Eisenbahn zur Taiwan Eisenbahn sehr lang," sagt Kuan leise. "Es ist meine tiefste Überzeugung, daß wir eines Tages nach Shenyang zurückkehren werden. Wenn ich es nicht schaffe, dann mein Sohn."
Es scheint, daß Kuan die Ausdauer seines Vaters geerbt hat, aber statt erfinderisch tätig zu sein, schafft er einzigartige Kunstwerke. Genauso wie sein Vater früher, arbeitet auch er bei der Taiwan Eisenbahnverwaltung und des nachts verbringt er vier oder fünf Stunden damit, Eier zu schnitzen. Jedoch hat diese Leidenschaft durch die intensive Konzentration der Augen auf die weißen Schalen gelegentlich zu "Schneeblindheit" geführt. Aber es scheint, ihn schreckt nichts ab, im Gegenteil, er sucht immer neue Herausforderungen und kürzlich verbrachte er 120 Stunden damit, aus einer Eierschale ein Netz zu schnitzen.
Kuan berichtet, daß er zum ersten Mal vor zehn Jahren von der 19-schichtig geschnitzten Elfenbeinkugel inspiriert wurde, Eierschalen zu schnitzen. "Die Elfenbeinkugel ist ein Wunder. Ich hatte plötzlich den Drang etwas ähnliches schaffen zu müssen, wollte aber mit einem Material arbeiten, welches in dieser Form von meinen Vorfahren noch nicht verwendet worden war."
Kurze Zeit später kaufte Kuan für seine schwangere Frau eine Henne in der Absicht, ihr nach der Geburt des Kindes ein besonders nahrhaftes Essen zuzubereiten. Nachdem er vom Markt heimgekehrt war, legte die neu erstandene Henne ein Ei. Als Kuan dieses Ei in der Hand hielt, war es für ihn, als ob er das Ei des Kolumbus gefunden hätte. Die anmutige Form des frischgelegten Eis gab Antwort auf die Frage nach einem geeigneten Medium zum Ausdruck seiner künstlerischen Ambitionen. Nach einem Jahrzehnt fand Kuans Kunst schließlich öffentliche Anerkennung.
"Mit meiner Eierschalenschnitzerei möchte ich die außerordentliche Schönheit chinesischer Kultur zum Ausdruck bringen und darüber hinaus den Menschen mitteilen, daß wir das Unmögliche möglich machen können. Es mag sein, daß nach meinem Tode sich keiner mehr an meinen Namen erinnert und meine Schnitzereien zerfallen werden, aber die Essenz und die Wirkungskraft werden fortdauern und die Technik der Eierschalenschnitzerei wird überliefert und perfektioniert werden." Kuans Eierschalenschnitzereien enthüllen offensichtlich auch ein sehr persönliches Universum.
(Deutsch von Patricia Kortmann)